Bereits seit drei Wochen tun wir, was vor zehn Jahren undenkbar gewesen wäre: Wir reisen mit dem Velo durch Saudi Arabien. Erst im Jahr 2013 wurde es Frauen erlaubt (damals nur in Erholungsgebieten, in männlicher Begleitung und unter Einhaltung der Kleidervorschriften, d.h. mit Abaya und Schleier), Velo zu fahren. Seit 2018 dürfen Frauen Auto fahren, die Kleidervorschriften wurden abgeschafft und Touristen könnenmit einem (sehr einfach erhältlichen) eVisum nach Saudi Arabien einreisen. All diese Massnahmen sind Teil der Vision 2030, mit welcher der Kronprinz die Abhängigkeit des Landes vom Öl reduzieren will.

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Die elektronischen Visaformalitäten funktionieren einwandfrei und sind bereit für den Grossandrang. Mit ein paar einfachen Klicks füllten wir das Antragsformular aus, überwiesen das Geld und 20min später war das eVisum im Posteingang. Nach der reibungslosen Einreise und den ersten beiden Einladungen zu Kaffee und Datteln zeigte sich, dass Nicht-Pilger-Touristen noch etwas exotisch sind… Ab dem Grenzposten wurden wir (wahrscheinlich zu unserem Schutz oder aus Langeweile) den gesamten ersten Tag von der Polizei eskortiert. Anfangs fanden wir es witzig, dass uns die Polizei mit einem Fahrzeug auf Schritt und Tritt verfolgte. Mühsam wurde es erst, als wir kaum einkaufen oder Pause machen durften. Nachdem wir am Abend unser Zelt aufgeschlagen hatten, versuchte uns der Polizist mit Google Translator zu überzeugen, dass es ganz in der Nähe (=25km) ein gutes Hotel gäbe und die wilden Tiere gefährlich seien. Am Ende der Konversation war Camping «forbidden», was wir mit unseren Englischkenntnisse nicht verstanden😉. Wir blieben stur und fingen an zu kochen. Ab diesem Zeitpunkt liess uns die Polizei in Ruhe und am nächsten Morgen brachen wir auf, bevor die Eskorte zurück war😊.

Ohne Begleitschutz fuhren wir via Tabuk ins Wadi Disah. Weil die Einfahrt ins Wadi 800 Höhenmeter tiefer lag und wir nicht unbedingt wieder hoch pedalieren wollten, werweissten wir lange, ob die 15km Sandpiste für uns machbar seien. Wir entschieden uns, das Risiko des Wiederaufstiegs in Kauf zu nehmen und genossen die steile Abfahrt. Mit reduziertem Reifendruck konnten wir einige Kilometer durch das Wadi fahren, bevor der Sand die Fahrt verunmöglichte und wir das Velo schieben mussten. Am Vormittag waren wir in der superschönen Landschaft ungestört, nachmittags kamen sehr viele Einheimische mit 4×4 Fahrzeugen zum Campen, Offroaden und fürs Picknick. Mit den vielen Leuten und Motorenlärm verlor das Wadi zwar die Idylle, gewann aber an Charakter😊. Die vielen freundlichen Saudis beschenkten uns reichlich mit Wasser und Essen, luden uns zu Kaffee, Tee, Zmittag, Znacht etc. ein. Wir hatten sehr viel Spass, nur die knietiefen Wasserlöcher machten die Wadi-Traverse mühsam.

Das nächste Ziel auf unserer Route war der Touristenmagnet Al Ula. Eingebettet in wunderschöner Felslandschaft bietet die Region Gräber der Nabatäer, Felszeichnungen und eine Altstadt. Gemäss Vision 2030 werden hier bis 2035 zwei Millionen Besucher pro Jahr erwartet. Fast alle Attraktionen sind abgezäunt und nur mit obligater Bustour, mysteriösen Tickets oder exklusiv für Gäste von Luxushotels zugänglich. Einzig der Elephant Rock und die sich im Aufbau befindliche Altstadt von Al Ula können frei besichtigt werden.…😉

Die sterile Atmosphäre vermochte uns nicht zu begeistern, sodass wir den kuriosen Touristenort bald Richtung Medina verliessen. Weil es unterwegs stark regnete, verbrachten wir den Nachmittag (und die Nacht) unter dem Vordach einer kleinen Moschee. Es war sehr faszinierend zu sehen, wie viel Wasser die Wadis noch Tage nach den Regenfällen führten und wie grün die Wüste plötzlich wurde.

Mit zermürbendem Gegenwind erreichten wir nach ein paar Tagen Medina. Die zweitheiligste Stadt im Islam kann erst seit 2021 von Nicht-Muslimen besucht werden – mit Ausnahme der Moschee des Propheten (Al Masjid an Nabawi). Von den riesigen Sonnenschirmen vor der Moschee, den Pilgermassen in der ganzen Stadt und den mächtigen Hotelkomplexen im Zentrum waren wir sehr beeindruckt. Ab Medina pedalierten wir drei landschaftlich eintönige Tage bis zu unseren Freunden im KAUST (King Abdullah University of Science and Technology).

Wir erleben die Saudis als sehr (gast)freundlich und interessiert. Täglich werden uns Wasserfläschchen und Essen zugesteckt, oft werden wir gefilmt und landen auf unzähligen Whatsapp Stati oder auf Tiktok😊. Am letzten Abend vor unserer Ankunft im KAUST nahmen wir eine Einladung zum Essen und Übernachten an. Unser Gastgeber hat uns auf der Strasse aufgegriffen und schon wenig später sassen wir im Empfangszimmer seines Hauses bei Kaffee und Datteln. Ich durfte zu den (unverschleierten) Frauen ins Wohnzimmer, während David im Dorf vorgestellt wurde. Die Frau unseres Gastgebers hatte vor Kurzem ihren Führerschein «erhalten»: Stolz fuhr sie ihre zwei ältesten Töchter und mich zum Fotografieren an den Strand. Die Töchter fragten mich, ob ich für die Ausfahrt eine Abaya anziehen wollte. Die Mama erkannte meine mässige Begeisterung und stellte klar, dass ich nichts müsse und ruhig ohne Kopftuch mitkommen solle.

Das Znacht wurde David und mir separat serviert, damit die Frauen in der Familie unverschleiert essen konnten. Übernachten durften wir im Wochenendhaus eines Cousins, der uns unbedingt zum 4×4 Campieren einladen wollte. Wir schlugen die Einladung aus und erklärten, dass wir mit Freunden im KAUST verabredet seien. Die Begründung wurde erst akzeptiert, als wir erwähnten, dass wir einen Professor besuchten😊.

Nun sind wir seit einer Woche im KAUST und lassen es uns sehr gut gehen. Wir geniessen das Essen am Familientisch, die guten Gespräche, das Sightseeing im Campus und natürlich die Ausflüge an den Strand und zum Schnorcheln! Merci vielmal, liebe Barbara & Kids für die überwältigende Gastfreundschaft, die Zeit mit euch und dass wir so unkompliziert zur Familie gehören dürfen!

Unseren Velos gönnten wir nach 20’000km neue Reifen, Schläuche, Ketten und Ritzel. Die Ersatzteile dazu hatten wir im Sommer zu meinen Eltern bestellt und uns nach Saudi schicken lassen. Mit den frisch gewarteten Velos soll die Fahrt morgen nach Jeddah weitergehen. Wir sind gespannt, was uns auf den langen Strecken durch die Wüste bis in die Vereinigten Arabischen Emirate erwartet. Auf unserer vorgesehenen Route gibt es Tankstellen oder Dörfer im Höchstabstand von etwa 120km. Um die Versorgung machen wir uns also keine Sorgen… Aber wir wünschen uns gnädigen Wind und keine Sandstürme, damit wir die 2000km aus eigener Kraft tschaupe können😊.