Der Gastgeber im B&B forderte uns nach dem Zmorge auf, am Feuer Platz zu nehmen und zu warten. Er müsse kurz weg und sei in einer Viertelstunde zurück. Weil wir ohnehin nur eine kurze Tagesetappe vor uns hatten, bestand kein Grund zur Eile und wir genossen die heimelige Wärme noch etwas länger…

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Kaum hatten wir es uns gemütlich gemacht, kam er mit einem Freund und Nachbar zurück. Es war Yoshiharu Seikino, der 1993 in Patagonien aufbrach, um den Weg des Homo Sapiens bis Zentralafrika aus eigener Kraft zurückzuverfolgen. Beim Anschauen seiner Bildbände erzählte er von der Traverse des gefährlichen Darien-Dschungels und von der Beringstrasse, durch welche er mit dem Kajak paddelte. Nordost-Sibirieren querte er mit Hundeschlitten im Winter! Die restliche Strecke bewältigte er zu Fuss oder per Velo. Bescheiden berichtete er von seinen Abenteuern als wären es normale Ferien😉… wir waren sehr beeindruckt!
Um 10 Uhr war es für den 75jährigen höchste Zeit, sich an die Arbeit zu machen. Sein aktuelles Projekt ist es, ein japanisches Steinzeit-Haus zu bauen. Die Werkzeuge stellt er selbst aus Stein, Holz und Lianen her.
Wer, wie wir, noch nie von Yoshiharu Seikino gehört hat, kann seine Homepage besuchen.

Innerhalb weniger Kilometer erreichten wir aus der Steinzeit das moderne Plastik-Zeitalter. Auf der Suche nach Schweizer Schokolade für unsere nächsten Gastgeber durchforsteten wir einen besonders extravaganten Laden in Japan: Don Quijote. Das Sortiment umfasst Elektronik, Haushaltwaren, Parfüm, Papeterieartikel, Sexspielzeug, Kleider, Lebensmittel und vieles mehr.
Es herrscht absichtlich angelegtes Chaos, sodass der Kunde nicht findet, was er sucht und kauft, was er nie wollte. Die permanente Beschallung mit lauter Musik und das Geblinke machen die Orientierungslosigkeit im Laden perfekt. Aber Don Quijote führt als praktisch einziges Geschäft Toblerone😉.
Mit einer Tagesetappe durch Agglomerationsgebiet erreichten wir Saitama bei Tokio, wo wir uns für ein paar Tage bei Anna und ihrer Familie einquartieren durften. Obwohl wir uns noch nie gesehen hatten, wurden wir schon auf der Quartierstrasse freudig empfangen😊. Wir genossen den Tapetenwechsel vom Veloreisen zum Familienalltag sehr und liessen uns von den beiden Jungs gerne zum Lego-Spielen einspannen. Das echte Schweizer Chäsfondue mit herrlichem hausgemachtem Brot war eine grossartige Überraschung!

Von Saitama aus besuchten wir Tokio bequem mit dem Zug. Fürs ultimative Erlebnis wollten wir uns zu Pendlerzeiten mit den «Salaryman» und «Office Ladies» in die Metro drängen und uns vom Gewussel der Tokio Station mitreissen lassen. Zu unserem Erstaunen waren weder der Zug noch der Bahnhof speziell vollgestopft. Wirklich eindrücklich war hingegen die absolute Stille im Zug.
Wir hatten nicht den Anspruch, die grösste Stadt der Welt in einem Tag zu besichtigen. Vielmehr wollten wir durch (einige) Quartiere schlendern und möglichst viel Grossstadt erleben. Neben der farbigen Ginko-Allee und dem berühmten Shibuya Scramble Square fanden wir das Abendessen zwischen den Salarymen im Imbiss unter der Eisenbahnbrücke besonders authentisch😊.

Nach einem entspannten Samstag im Park mit Anna & Familie und einem letzten Zmorge mit feinem Müesli, Joghurt, Brot und Konfi verabschiedeten wir uns. Vielen, vielen Dank für die tolle Zeit bei euch und eure wunderbare Gastfreundschaft!

Wir verliessen das Grossstadtgebiet Tokio Richtung Westen und hatten das Glück, dem wolkenlosen Mount Fuji entgegen zu pedalieren.  Als erstes Nachtlager hatten wir einen kleinen Pass mit WC-Häuschen anvisiert. Wie so oft in Japan wurden wir von der früh einsetzenden Dunkelheit eingeholt. An diesem Abend waren wir jedoch nicht die einzigen Velofahrer, die nach 17 Uhr im Dunkeln unterwegs waren. Auf dem steilen Schlussaufstieg begegneten wir einem jungen chinesischen Paar auf der Hochzeitsreise (sozusagen als Belastungstest😊). Oben auf dem Pass hatten wir bereits das Zelt aufgeschlagen, die Daunenjacke angezogen und Znacht gekocht, als die beiden eintrafen. Wir freuten uns über die Gesellschaft, den Austausch und dass wir sie mit Schokolade und einer warmen Suppe für die Weiterfahrt stärken durften.

Auch am nächsten Tag blieb die Sicht auf den Mount Fuji phänomenal. Der Berg verschwand erst in den Wolken, als wir ihm den Rücken zugekehrt hatten und ein Ampel-Sprint-Training durchs Industrie- und Wohngebiet von Hamamatsu absolvierten. Im Stadtgebiet war zügiges Vorankommen nicht möglich, denn alle paar hundert Meter mussten wir an einer roten Ampel stoppen. Eine sehr viel längere Stadtfahrt ersparten wir uns, indem wir die Fähre über die Ise-Bucht auf die Kii-Halbinsel nahmen. Nach der kurzen Schiffpassage kurvten wir entlang kleinen, hübschen Fischerdörfchen und Buchten mit Perlenzucht.

Ab Shingu führte unsere Route über praktisch verkehrsfreie Strässchen ins bergige Inland zum Tempeldorf Koya. Hier waren die moosigen Grabsteine im Waldfriedhof sehr sehenswert und das kalte Nieselwetter sorgte für die passende Atmosphäre😉. Auf etwas mehr Wärme hoffend fuhren wir ins Tal und statteten auf den Weg nach Wakayama den beiden Bahnhofvorsteherinnen-Büsis Nitama und Yontama einen erneuten Besuch ab. Diesmal hatten wir das Glück, dass beide bei der Arbeit waren, wobei Yontama gerade ihren Dienst verschlief und Nitama uns keines Blickes würdigte😉.

Von den Bahnstationen in Kishi und Idakiso war es nicht mehr weit bis auf die Fähre zur Insel Shikoku. Mehrere Männer mit Leitfahnen und Taschenlampe wiesen uns auf der leeren Ladefläche den Platz an und übernahmen mit grösster Sorgfalt die Befestigung unserer Velos. Was für ein Luxus😊! Nun sitzen wir auf dem Schiff umgeben von herzigen Plüsch-Pandas. Die Fähre ist «Panda Love» gewidmet, einer Panda-Zuchtstation und Freizeitpark im Süden der Kii-Halbinsel.

Dieser Beitrag wurde am 16. Dezember 2023 publiziert.